Tageslicht
Sarah fuhr im Schrittempo die Nebenstraße entlang. Das Geräusch des Hubschraubers wurde immer lauter. Dann knatterte er direkt über ihr, doch durch das dichte Blätterdach konnte sie ihn nicht sehen. Er schien nach rechts abzudrehen, in Richtung Süden.
Das Funkgerät klickte. »Sarah.«
»Ja, Doc.«
»Hören Sie, wir können mit dem Hubschrauber keine Verbindung aufnehmen.«
»Okay«, sagte sie. Sie verstand, was jetzt zu tun war. »Wo ist der Landeplatz?«
»Im Süden. Ungefähr eine Meile. Da ist eine Lichtung. Nehmen Sie die Gratstraße.«
Sarah hatte die Weggabelung erreicht. Nach links führte die Gratstraße in Richtung Siedlung, nach rechts offenbar direkt zum Landeplatz. »Okay«, sagte sie. »Ich bin unterwegs.«
»Sagen Sie ihnen, sie sollen auf uns warten«, sagte Thorne. »Und dann kommen Sie zurück und holen uns.«
»Wie geht’s den anderen?« fragte sie.
»Alles in Ordnung«, erwiderte Thorne.
Im Fahren hörte sie, daß das Hubschraubergeräusch sich veränderte. Offensichtlich landete er. Doch die Rotoren knatterten weiter, was bedeutete, daß der Pilot nicht vorhatte, den Motor abzustellen.
Die Straße beschrieb eine Linkskurve. Das Hubschraubergeräusch war jetzt ein gedämpftes Donnern. Sarah beschleunigte und schleuderte um die Kurve. Die Straße war noch feucht vom Regen der vergangenen Nacht, das Auto wirbelte keine Staubwolke auf. Es gab folglich nichts, was den Piloten auf sie aufmerksam hätte machen können.
»Doc. Wie lange werden sie warten?«
»Keine Ahnung«, sagte Thorne über Funk. »Können Sie den Hubschrauber schon sehen?«
»Noch nicht«, erwiderte sie.
Levine starrte zum Fenster hinaus. Er betrachtete den immer heller werdenden Himmel über den Bäumen. Die roten Streifen waren verschwunden. Er zeigte jetzt ein strahlendes, gleichmäßiges Blau. Das war eindeutig das Tageslicht.
Tageslicht …
Und plötzlich kam es ihm. Er erschauerte, als es ihm bewußt wurde. Er ging zum gegenüberliegenden Fenster und sah zum Tennisplatz hinüber. Er starrte die Stelle an, wo in der Nacht die Carnotaurier gestanden hatten. Sie waren verschwunden.
So wie er es befürchtet hatte. »Das ist übel«, sagte er.
»Es ist erst acht«, sagte Thorne mit einem Blick auf die Uhr.
»Wie lange wird sie brauchen?« fragte Levine.
»Ich weiß nicht. Drei oder vier Minuten.«
»Und hierher zurück?«
»Noch einmal fünf Minuten.«
»Ich hoffe, wir überstehen die Zeit.« Er machte ein unglückliches Gesicht.
»Warum?« fragte Thorne. »Wir sind doch okay.«
»In ein paar Minuten«, sagte Levine, »werden wir hier draußen direktes Sonnenlicht haben.«
»Na und?« fragte Thorne.
Das Funkgerät klickte. »Doc«, sagte Sarah. »Ich sehe ihn. Ich sehe den Hubschrauber.«
Sarah bog um eine letzte Kurve und sah links unter sich den Landeplatz. Der Hubschrauber stand mit knatternden Rotorblättern auf der Lichtung. Vor sich hatte sie eine weitere Kreuzung, von der eine schmale Straße links einen bewaldeten Hügel hinunter und dann auf die Lichtung führte. Sie bog ab und hatte nun eine steile Serpentinenstraße vor sich, die sie zum Langsamfahren zwang. Sie war jetzt wieder im Dschungel, dichtes Laubwerk versperrte ihr die Sicht. Dann wurde der Boden wieder eben, sie überquerte spritzend einen schmalen Bach und beschleunigte wieder.
Direkt vor sich sah sie eine Lücke im Dschungel und dahinter die sonnenbeschienene Lichtung. Sie sah den Hubschrauber. Die Rotoren begannen sich schneller zu drehen – er startete! Sarah sah den Piloten in der Glaskanzel, er trug eine dunkle Sonnenbrille. Der Pilot sah auf die Uhr, schaute dann kopfschüttelnd seinen Copiloten an und begann abzuheben.
Sarah stieg aufs Gas und hupte. Aber sie wußte, daß die Männer sie nicht hören konnten. Das Auto holperte und hüpfte. Thorne sagte: »Was ist, Sarah? Was ist los?« Sie beugte sich im Fahren aus dem Fenster und schrie: »Warten! Warten!« Aber der Hubschrauber war bereits in der Luft und verschwand aus ihrem Blickfeld. Die Geräusche wurden schwächer. Als sie endlich die Lichtung erreicht hatte, sah sie nur noch, wie der Hubschrauber abdrehte und über den Felsrand der Insel verschwand.
Er war nicht mehr zu sehen.
»Jetzt die Ruhe bewahren«, sagte Levine, der in dem kleinen Laden auf und ab ging. »Sagen Sie ihr, sie soll sofort zurückkommen. Und wir müssen die Ruhe bewahren.« Er schien mit sich selbst zu reden. Er ging von einer Wand zur anderen, hämmerte mit der Faust gegen die Holzbretter, schüttelte unglücklich den Kopf. »Sagen Sie ihr, sie soll sich beeilen. Glauben Sie, sie schafft es in fünf Minuten?«
»Ja«, sagte Thorne. »Aber warum? Was ist denn los, Richard?«
Levine deutete zum Fenster hinaus. »Tageslicht«, sagte er. »Wir sind im Tageslicht hier gefangen.«
»Wir waren die ganze Nacht hier gefangen«, sagte Thorne. »Und haben es überstanden.«
»Aber bei Tageslicht ist es anders«, sagte Levine.
»Warum?«
»Weil in der Nacht«, erwiderte Levine, »das hier Carnotaurus-Territorium ist. Andere Tiere kommen nicht hierher. Letzte Nacht haben wir hier in der Umgebung überhaupt keine anderen Tiere gesehen. Aber wenn der Tag anbricht, können die Carnotaurier sich nicht mehr verstecken. Zumindest nicht auf freien Flächen mit direkter Sonneneinstrahlung. Also verschwinden sie. Und dann ist das hier nicht mehr ihr Territorium.«
»Und das bedeutet?«
Levine sah zu Kelly hinüber, die am Computer saß. Er zögerte und sagte dann: »Glauben Sie mir einfach. Wir müssen sofort von hier weg.«
»Und wohin?«
Kelly am Computer hörte genau, was Thorne und Dr. Levine miteinander besprachen. Sie spielte mit dem Fetzchen Papier, auf das Arby das Kennwort geschrieben hatte. Sie war sehr nervös. Die Art, wie Dr. Levine redete, machte sie nervös. Sie wünschte sich, Sarah wäre schon wieder zurück. Es würde ihr gleich bessergehen, wenn nur Sarah hier wäre.
Kelly dachte nicht gern über ihre Lage nach. Sie hatte sich zusammengenommen und nicht den Mut sinken lassen, bis der Hubschrauber kam. Aber jetzt war der Hubschrauber wieder abgeflogen. Ihr fiel auf, daß keiner der Männer davon sprach, wann er zurückkommen würde. Vielleicht wußten sie etwas. Vielleicht kam er nie mehr zurück.
Dr. Levine sagte, daß sie den Laden verlassen müßten. Und Thorne fragte Dr. Levine, wohin er gehen wolle. Levine sagte: »Am liebsten gleich von dieser Insel herunter, aber ich sehe nicht, wie. Ich denke deshalb, wir sollten zum Caravan zurückkehren. Das ist im Augenblick der sicherste Ort.«
Zum Caravan zurück, dachte Kelly. Wohin sie mit Sarah gefahren war, um Malcolm zu holen. Kelly wollte nicht zum Caravan zurück. Sie wollte nach Hause.
Mit fahrigen Bewegungen glättete sie das Stück Papier auf dem Tisch neben dem Computer. Dr. Levine kam zu ihr. »Hör auf, rumzuspielen«, sagte er. »Schau lieber, ob du Sarah finden kannst.«
»Ich will nach Hause«, sagte Kelly.
Levine seufzte. »Ich weiß, Kelly«, sagte er. »Das wollen wir alle.« Er drehte sich um und ging mit schnellen, nervösen Bewegungen davon.
Kelly schob das Papier weg, drehte es um und steckte es unter das Keyboard, für den Fall, daß sie das Kennwort noch einmal benötigte. Dabei fiel ihr Blick auf etwas, das auf der Rückseite geschrieben stand. Sie zog das Papier noch einmal hervor. Und las:
ANLAGE B LEGENDE
OSTFLÜGEL WESTFLÜGEL LADEBUCHT
LABOR MONTAGEBUCHT EINGANG
AUSSENBEZIRK HAUPTKERN GEO-TURBINE
LADEN ARBEITERSIEDLUNG GEO-KERN
TANKSTELLE POOL/TENNIS GOLF
MGRS-HAUS JOGGINGPFAD GASLEITUNGEN
SICHERHEIT EINS SICHERHEIT ZWEI WARMWASSER-
LEITUNGEN
FLUSSDOCK BOOTSHAUS SOLAR EINS
SUMPFSTRASSE FLUSS-STRASSE GRATSTRASSE
PANORAMASTRASSE KLIPPENSTRASSE GEHEGE
Sie wußte sofort, was das war: ein Ausdruck aus dem Computer in Levines Wohnung. Von dem Abend, als es Arby gelungen war, einige Dateien wiederherzustellen. Das schien eine Million Jahre herzusein, eine Szene aus einem anderen Leben. Und doch war es erst … wie lange? Zwei Tage her.
Sie erinnerte sich, wie stolz Arby gewesen war, als er die Daten wiederhergestellt hatte. Sie erinnerte sich, wie sie alle versucht hatten, den Sinn dieser Liste zu verstehen. Jetzt hatten natürlich all diese Namen eine Bedeutung: das Labor, die Arbeitersiedlung, der Laden, die Tankstelle …
Sie starrte die Liste an.
Das gibt’s doch nicht, dachte sie.
»Dr. Thorne«, sagte sie. »Das sollten Sie sich mal ansehen.«
Thorne starrte die Liste an, die Kelly ihm zeigte. »Glaubst du wirklich?« fragte er.
»Hier steht’s doch: Bootshaus.«
»Kannst du es finden, Kelly?«
»Sie meinen, ob ich es über die Videoanlage finden kann?« Sie zuckte die Achseln. »Ich kann’s versuchen.«
»Dann versuch’s«, sagte Thorne. Er sah zu Levine hinüber, der auf der anderen Seite des Ladens stand und wieder gegen die Wand hämmerte.
Dann nahm er das Funkgerät zur Hand.
»Sarah? Doc hier.«
Das Funkgerät knisterte. »Doc? Ich mußte ‘nen Augenblick stehenbleiben.«
»Warum?« fragte Thorne.
Sarah Harding hatte auf der Gratstraße angehalten. Fünfzig Meter vor sich sah sie den Tyrannosaurier, der sich auf der Straße von ihr entfernte. Sie sah, daß er Dodgson noch immer im Maul hatte. Und offensichtlich lebte Dodgson noch. Sein Körper bewegte sich. Sie glaubte, ihn schreien zu hören.
Etwas überrascht stellte sie fest, daß sie keinerlei Mitgefühl für ihn empfand. Kühl und distanziert sah sie zu, wie der Tyrannosaurier die Straße verließ und im Dschungel verschwand.
Sarah ließ das Auto wieder an und fuhr vorsichtig weiter.
Kelly saß vor dem Computer und arbeitete sich durch die verschiedenen Videobilder, bis sie schließlich fand, was sie suchte: ein hölzerner Steg in einem nach vorne offenen Schuppen oder Bootshaus. Innen schien das Bootshaus in ziemlich gutem Zustand zu sein; Ranken und Farne hatten noch kaum von ihm Besitz ergriffen. Sie sah ein Schnellboot, das am Steg festgemacht war und gegen die Bohlen stieß. An der einen Wand des Bootshauses sah sie drei Fässer. Und vor dem Bootshaus war offenes Wasser im Sonnenlicht, es sah aus wie ein Fluß.
»Was halten Sie davon?« fragte sie Thorne.
»Ich glaube, einen Versuch ist es wert«, sagte er mit einem Blick über ihre Schulter. »Aber wo ist das Bootshaus? Kannst du eine Karte finden?«
»Vielleicht«, sagte sie. Sie drückte ein paar Tasten und schaffte es so, zum Hauptmenü mit seinen verwirrenden Symbolen zurückzukommen.
Arby wachte auf, gähnte und kam zu ihr, um sich anzusehen, was sie tat. »Nette Graphik. Du bist drin, was?«
»Ja«, sagte sie. »Ich bin drin. Aber ich habe Schwierigkeiten, mich zurechtzufinden.«
Levine ging auf und ab und starrte immer wieder zu den Fenstern hinaus. »Das ist ja alles gut und schön«, sagte er. »Aber draußen wird’s mit jeder Minute heller. Versteht ihr denn nicht? Wir müssen von hier weg. Dieser Bau hat nur einfache Holzwände. Im Grunde genommen ist es nur eine Hütte.«
»Der Laden wird schon durchhalten.«
»Für drei Minuten vielleicht. Ich meine, schauen Sie sich nur das da an«, sagte Levine, ging zur Tür und klopfte mit den Knöcheln dagegen. »Diese Tür ist nur –«
Mit einem lauten Krachen zersplitterte das Holz um das Schloß, und die Tür sprang auf. Levine wurde zur Seite geschleudert und landete unsanft auf dem Boden.
Ein Raptor stand fauchend in der Tür.